Zeitgeschichte 1945–1948 (4)

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Erinnerungen an die Jahre von 1945 bis 1948

Ich versuche mit diesen Zeilen einige meiner Erinnerungen niederzulegen, die mir als damals Zehnjährigen bis heute geblieben sind. (Dabei erspare ich mir weitgehend die Erlebnisse während der Vertreibung und möchte überwiegend die Zeit danach behandeln.) Die meisten sudetendeutschen Heimatvertriebenen kamen mit den organsierten Transporten ab 1946 nach Weißenburg und verbrachten die erste Zeit auf der Wülzburg. Meine Eltern und ich wurden allerdings schon am 23. Juni 1945 nur mit den Kleidern, die wir am Leib hatten, aus unserem Haus in Luditz, einer Kleinstadt im Egerland (Westböhmen), getrieben und vom Vater getrennt in einer Schule eingesperrt. Am 17. Juli 1945 wurden meine Mutter und ich auf einem Lastwagen an die deutsch-tschechische Grenze nach Oberwiesenthal (Sachsen) transportiert. Von dort ging es mit dem Zug weiter nach Dresden und dann in die Gegend von Plauen. Nach einem abenteuerlichen Nachtmarsch durch Wälder und Sumpfgebiete kamen wir über die Demarkationsgrenze nach Bayern. Meine Eltern hatten, für den Fall einer Trennung, ausgemacht sich bei einer Verwandten in Frickenhausen am Main wieder zu treffen.

Aus dem Nachlass meiner Eltern weiß ich, dass meine Mutter und ich am 23. Juli 1945 die damalige Sowjetische Besatzungszone verließen. Da uns die Tschechen bis auf sieben Reichsmark alles abgenommen hatten, verdiente meine Mutter, eine Lehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft, ein wenig Essen und die Übernachtungen durch Näharbeiten bei Leuten, die uns aufgenommen hatten. Unser Weg führte uns von Hof über Bayreuth und Schweinfurt nach Kitzingen. Dort kamen wir bei einem Bäcker unter, der viele Kinder hatte. Dort nähte meine Mutter mehrere Tage für die Kinder. Dafür bekam ich nach langer Zeit wieder Kuchen zu essen. Zum Abschied erhielten meine Mutter und ich einige Kleidungsstücke, die wir doch dringend benötigten. Meine Mutter erwähnte mir einmal später, auf Grund der Erfahrungen, die wir auf unserem Weg hatten, den Auszug aus der Bibel “ Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr…..“. Es waren für uns harte und entbehrungsreiche Wochen und wir hatten oft nichts zu essen und wussten nicht, wo wir am Abend schlafen konnten. In Frickenhausen angekommen, wurden wir von meiner Cousine herzlich begrüßt. Von den anderen Verwandten, bis auf eine Ausnahme, schlug uns Unverständnis entgegen. Diese Menschen konnten sich damals nur schwer in unsere Lage versetzen. Da die Vertreibung aus dem Sudetenland im großen Stil erst 1946 richtig begann, war für die Einheimischen unsere Ankunft in dem jämmerlichen Zustand unverständlich. Meine Mutter suchte sich dann sofort Arbeit und fand diese zunächst in einer Hosenträgerfabrik. Da bei dieser schlecht und unpünktlich bezahlt wurde und die Verwandten uns mehr oder weniger baten weiterzuziehen, kamen wir über Umwegen nach Weißenburg, wo wir uns am 29. Dezember 1945 angemeldet haben.

Der Gebäudekomplex des Krankenhauses "Am Nußbaum"

Hier bemühte sich meine Mutter sofort um eine Arbeit und konnte am 1. Januar die Stelle als Chefköchin im Krankenhaus „Am Nußbaum“ antreten. Vielen Weißenburgern ist das heute nicht mehr bekannt. Es bestand aus drei Gebäuden auf der Ludwigshöhe etwa auf Höhe des Altersheims der Arbeiterwohlfahrt, aber weiter östlich. Das Krankenhaus diente zur Unterbringung von Frauen, die sich mit den amerikanischen Besatzungssoldaten eingelassen hatten und sich entweder schon Geschlechtskrankheiten zugezogen hatten oder dort zur Vorsorge untersucht werden sollten. Die Krankenräume waren vergittert, und es wurde auf absolute Quarantäne geachtet. Im ersten der drei Gebäude waren die Küche und Wirtschaftsräume. Hier wohnten später meine Eltern und ich in einem kleinen Zimmer bis 1948. Die „kasernierten“ Damen wurden wohl auf Anweisung der Amerikaner ausreichend mit Lebensmitteln versorgt, sodass wir ab da wenigstens nicht mehr Hunger leiden mussten. Das Krankenhaus hatte natürlich einen denkbar schlechten Ruf, was sicher der Grund war, dass meine Mutter die Anstellung so schnell bekommen hatte. Der damalige Chefarzt war Herr Dr. Muggenthaler. Dieser achtete allerdings streng darauf, dass die Gesundheitsvorschriften eingehalten wurden und ein Kontakt zwischen dem Küchenpersonal und „Patienten“ nicht möglich war. Im Juli 1948 wurde das Krankenhaus geschlossen und meine Mutter arbeitete wieder in ihrem Beruf als Lehrerin. Doch zurück zu 1946. Da die Frau des Chefarztes eine Gesangsausbildung genossen hatte und meine Mutter eine ausgezeichnete Pianistin war, kam es bald zu privaten Kontakten. Frau Muggenthaler und Frau Belz, ebenfalls eine ausgebildete Operettensängerin und Frau des späteren Leiters des Weißenburger Gesundheitsamtes, engagierten meine Mutter als Begleiterin am Klavier. Diese freundschaftlichen und musikalischen Beziehungen mit Frau Belz hielten bis zum Tod meiner Mutter im Jahr 1999. Diese menschlichen Kontakte halfen uns sehr bei den Bemühungen, sich in Weißenburg zu integrieren.

Nun zu meinem Vater. Dieser war von den Tschechen ebenfalls eingesperrt worden und kam erst im Oktober 1945 zu uns nach. Damals war meine Mutter kurzfristig als Lehrerin in Sulzdorf bei Ochsenfurt tätig.

Wie alle Deutschen musste er einen Fragebogen zur Entnazifizierung ausfüllen. In diesem gab er an, dass er ehrenamtlicher Bürgermeister in der Stadt Luditz gewesen sei, da er wegen einer Lungenschädigung nicht wehrtauglich war. Er wurde nun zu einer Befragung durch die Amerikaner vorgeladen, da es damals keine deutsche Rechtssprechung gab. Dem jungen amerikanischen Verhandlungsführer, des Deutschen nur bedingt mächtig, war der Begriff „ehrenamtlich“ nicht bekannt, im Gegenteil sogar suspekt, und er verurteilte meinen Vater wegen Fälschung des Fragebogens zu 11 Monaten Gefängnis in Bayreuth. Später erfuhren wir, dass eine Kollegin meiner Mutter meinen Vater denunziert hatte, da sie diese Lehrerstelle in Sulzdorf anstrebte.

Aus diesem Grund wurde meine Mutter als Lehrerin entlassen und so kamen wir nach Weißenburg.

Mein Vater war 1947 bis Mitte 1948 als Lagerist bei der Firma Raab beschäftigt (das war ein sozialer Abstieg), dann einige Zeit bei der Süddeutschen Bekleidungsindustrie der Herren Dr. Aisenstadt und Barik der späteren Firma Regent. Am 1. April 1949 machte er sich mit seinem Landsmann Adolf Kauer selbstständig und gründete die spätere "Edelstein Kleider- und Wäschefabrik GmbH". (Siehe dazu die verschiedenen Beiträge im Wugwiki unter „ Zeitgeschichte“)

Als Kind wurde ich von den damaligen Schwierigkeiten zwischen Alt- und Neubürgern nur wenig tangiert. Allerdings bekam ich die täglichen Existenzsorgen meiner Eltern hautnah mit. Da es damals kaum etwas zu kaufen gab, was man heute als selbstverständlich ansieht, so wuchs man eben auf, ohne große Ansprüche stellen zu können. Das Einkommen war damals so niedrig, dass es gerade für den Lebensunterhalt reichte. Eine Versorgung durch den Staat, wie man das heute erwartet, war nicht möglich.

Ich besuchte ab Herbst 1946 die Oberrealschule in Weißenburg. Nach meinen Unterlagen waren mehr als dreißig Prozent meiner Mitschüler Flüchtlings- bzw. Vertriebenenkinder oder stammten nicht aus Weißenburg. Die Situation in Deutschland für uns junge Menschen war damals katastrophal. Es gab wenig zu essen und eine Versorgung mit Kleidung praktisch nicht gegeben. Wir hatten daher beinahe alle die gleichen Probleme und verstanden uns wohl deshalb so gut. Da wir keine Bücher hatten, mussten uns die Lehrer alles diktieren. Da hatten wir wieder das Problem, dass es keine Hefte zu kaufen gab. Ich erinnere mich noch an die Schulspeisung, die wir erhielten. Es war ein mit viel Wasser und etwas Milch zubereiteter Kakao. Wir nannten das Getränk „Negerschweiß“. Ich weiß noch, dass wir im Winter in nahezu ungeheizten Räumen unterrichtet wurden und im Sommer barfuß in die Schule kommen durften. Eine Sache bleibt mir noch heute in bester Erinnerung. Da ich mit Helmut, dem jüngsten Sohn des Herrn Dr. Dörfler in das Gymnasium ging, waren wir bald befreundet. Dank des Einsatzes der Eheleute Dörfler und Semmlinger konnte ich mit 16 Jahren Mitglied des exklusiven Weißenburger Tennisclubs werden. Das war damals für ein Flüchtlingskind eine Ausnahme. Die Freundschaft mit den Dörfler- und Semmlinger-Nachkommen ist heute noch sehr eng und freundschaftlich.

So ist meinen Eltern und mir die Integration in Weißenburg bald und schnell gelungen. Ich erinnere mich an einen Spruch, den mir meine Eltern mitgegeben haben: “Man kann einem Menschen alles an Hab und Gut nehmen, aber nicht das, was er im Kopf hat". So erklärt sich der überdurchschnittlich hohe Anteil an Kindern aus Familien von Heimatvertriebenen. Und nach diesem Grundsatz habe ich mein Leben ausgerichtet.

Quellen