Die Bedeutung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge für die wirtschaftliche Entwicklung Weißenburgs nach 1945: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 26. September 2015, 19:04 Uhr

Richtfest 1962 für ein neues Betriebsgebäude der Firma Edelstein, Kleider- und Wäschefabrik GmbH in Weißenburg, Industriestr. 49. Im Hintergrund das Gebäude der Firma Quaas, Schreibgeräte, die später von der Firma Schwan-Stabilo übernommen wurde.

Die Bedeutung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge für die wirtschaftliche Entwicklung Weißenburgs nach 1945 stellt hier den untersuchten Standort Weißenburg dar. Die nachstehenden Darlegungen können stellvertretend und generell für die heimatvertriebenen und mitteldeutschen Betriebsgründer (HVF) genannt werden.

Die Anlässe für Betriebsgründungen

  • Die HVF hatten schon vor 1945 gleichartige oder ähnliche Betriebe gehabt und wollten und konnten diese fortführen, was für viele der Betriebsgründer in Weißenburg zutrifft. Beispiele: Barnert, Scheffel, Drischel usw.
  • Es gab nur wenige oder keine Anstellungsmöglichkeiten bzw. sonstige Verdienstmöglichkeiten. Die Arbeitslosigkeit unter den Vertriebenen war extrem hoch. Walter König[1] stellt fest, dass etwa 50 % der Gesamtarbeitslosen Heimatvertriebene waren, bei einem Bevölkerungsanteil von 25 %.
  • Auf Grund der positiven Einstellung zur Arbeit und des zum Teil dramatischen Überlebenskampfes („Wille zum Überleben“) nach dem Krieg bestand ein Drang nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit.
  • Der große Nachholbedarf nach Konsumgütern (man sprach von Fresswelle, Kleiderwelle usw.) regte den aktiven Personenkreis an, hier tätig zu werden.
  • Um Betriebsgründungen zu ermöglichen, half der Staat bei der Vergabe von Krediten, Zuschüssen und Bürgschaften zu günstigen Bedingungen, wie ERP-Investitionskredite, Aufbaudarlehen, spezielle Förderprogramme. Nicht zu vergessen ist auch die Leistung der Sparkasse Weißenburg, die damals Kredite zu Konditionen vergab, die heute unvorstellbar wären.[2]
  • Die Vertriebenen und Flüchtlinge hatten oft, auf Grund der noch starken Bindung an die verlorene Heimat, Bedarf an Produkten, die in Bayern bisher unbekannt waren, so z. B. im Bereich der Ernährung, Kleidung und anderem. Diesen Bedarf wollten die Betriebsgründer decken. So wurden in Weißenburg zeitweise Karlsbader Oblaten hergestellt oder Filzhausschuhe, sogenannte Bodschn, wie sie im Sudetenland getragen worden waren, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
  • Es wurden Betriebe gegründet mit relativ einfachen Fertigungsmethoden und schmaler Roh- und Grundstoffbasis, da diese wenig Kapital benötigten. Beispiel: Dienstleistungsbetriebe, Bekleidungsindustrie, Handwerksbetriebe, Vertretungen usw.

Die wichtigsten Probleme bei der Betriebsgründung

  • Die Betriebsgründer hatten wenig oder kein Startkapital und konnten in der Regel den Banken auch keine Sicherheiten für Kredite geben.
  • Es war kein Kundenstamm vorhanden und auch die möglichen Lieferanten mussten erst ermittelt und gewonnen werden.
  • Die Beschaffung von Investitionsgütern in Form von Maschinen, Fahrzeugen, Räumen usw. bereitete zur damaligen Zeit große Probleme, da die ganze Wirtschaft darniederlag.
  • Aversionen zwischen Einheimischen, Heimatvertriebenen und Flüchtlingen führten dazu, dass Einheimische nicht bei den Neubürgern einkauften und umgekehrt. Es gab auch Behinderungen bei Zulassungen durch die Innungen, Kammern und Behörden.
  • Ein nicht zu vernachlässigender, aber heute oft vergessener, Punkt war die sogenannte Entnazifizierung. Es war dies ein Verfahren „ zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“, das in dem von den Amerikanern besetzten Bayern viele Personen lange Zeit an einer Betriebsgründung hinderte. Die Beschaffung entlastender Unterlagen war den Betroffenen oft nur unter großen Schwierigkeiten möglich, da diese in den Vertreibungsgebieten zurückgeblieben waren.

Probleme, die später auftraten

  • Die HVF hatten, nach Befriedigung des Grundbedarfs, die „falschen“ Branchen gewählt. Die zunehmende Marktsättigung, der Strukturwandel in der Industrie zu modernen Technologien und die Billigimporte aus dem Ausland machten den Betrieben immer mehr zu schaffen.
  • Ein Größenwachstum scheiterte am laufend steigenden Kapitalbedarf. Man schätzte 1974 den Kapitalbedarf für einen Arbeitsplatz in der Industrie auf durchschnittlich 250.000.- DM (125.000 Euro). Die Gewinne waren oft zu niedrig und die Steuern zu hoch, um Selbstfinanzierung betreiben zu können, Kredite waren zu teuer und keine Sicherheiten dafür vorhanden.
  • Auch der Einsatz neuer zukunftsorientierter Technologien und hochwertiger Produkte (die HVF arbeiteten in sogenannten traditionellen Branchen, vor allem im Textil- und Bekleidungsbereich, die einen geringen Kapitalbedarf je Arbeitsplatz benötigten), sowie Rationalisierungsinvestitionen zur Kostensenkung scheiterten überwiegend am Kapitalmangel. Nach einer Veröffentlichung der Lastenausgleichsbank hatten diese Betriebe einen Eigenkapitalanteil von 20 %.[3] Ein 50 %-Anteil zum Gesamtkapital wäre notwendig gewesen.
  • Die neuen Industrien, zum Beispiel die Kunststoff verarbeitenden Betriebe, zahlten höhere Löhne und warben die Arbeitskräfte ab. Dadurch kam es zu einem Arbeitskräftemangel, der die Liefermöglichkeiten einschränkte, und auch die Produktqualität verminderte sich, da die qualifizierten Arbeitskräfte abwanderten. Das war auch in Weißenburg der Fall gewesen.
  • Auf Grund der Schwierigkeiten und der sich abzeichnenden geringer werdenden Überlebenschancen in der sich die elterlichen Betriebe befanden, suchten die Nachkommen der Inhaber von HVF -Betrieben andere Berufe, so dass zunehmend auch ein Nachfolgerproblem auftrat.

Die wirtschaftliche Bedeutung

Die Bedeutung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge für die wirtschaftliche Entwicklung in Bayern und auch Weißenburg nach 1945 lässt sich mit wenigen Zahlen erläutern:

Bayern war bis zum Kriegsende ein überwiegend agrarisch geprägtes Land. Demgegenüber gab es, zum Beispiel im Sudetenland, einen hohen Prozentsatz an Beschäftigten in Industrie und Handwerk.

Die nachstehenden Tabellen zeigen, welche Bedeutung der Zugang an gut ausgebildeten Menschen für die Entwicklung Bayerns zu einem Industrieland hatte.

Beschäftigte in Industrie und Handwerk 1939 in Prozent[4]

  • Sudetenland: 51%
  • Deutschland: 40,7%
  • Bayern: 34%
  • 1961 in Bayern: 41,4%[5]


Von 100 Erwerbstätigen arbeiteten 1950 (in %)[6]in:[7]

Zweig Bayern Weißenburg
Heimatvertriebene Einheimische Heimatvertriebene Einheimische
Land- und Forstwirtschaft 14,1% 36,6% 2,6% 5,2%
Industrie, Handwerk 53,4% 34,5% 55,4% 50,7%
Handel, Verkehr 11,8% 14,2% 11,8% 16,3%
Öffentliche Dienstleistungen 13,1% 8,7% 20,7% 21,0%
Private Dienstleistungen 7,6% 6.0% 9,5% 6,8%

Diese wenigen Zahlen zeigen, dass die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge voll in die hochentwickelte Industriestruktur, auch in der Stadt Weißenburg, integriert werden konnten. Interessant ist der hohe Anteil im Bereich der Industriebeschäftigten und privaten Dienstleistungen. Letzteres ist auf den hohen Anteil der Vertriebenen an den Handelsvertretern zurückzuführen.

Der damalige bayerische Wirtschaftsminister Dr. Fritz Pirkl hielt am 13. Oktober 1972 in Nürnberg vor dem Verband der heimatvertriebenen und mitteldeutschen Wirtschaft einen Vortrag, in dem er auch die nachstehenden Daten vortrug. So nannte er die bis dahin für die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen- und Flüchtlingsbetriebe gewährten Mittel durch den Freistaat Bayern. Danach wurden 810 Millionen DM an Krediten, 280 Millionen an Bürgschaften und 7 Millionen DM Zuschüsse gewährt. Er hob besonders hervor, dass die begünstigten Betriebe und Personen mit äußerster Sorgfalt und großem Verantwortungsbewusstsein von diesen Finanzmitteln Gebrauch gemacht haben. Statt eines Darlehensausfalls von geschätzt etwa einem Drittel der Finanzmittel betrug dieser bis dahin nicht einmal 2 %.[8] In der Stadt Weißenburg erhielten 36 Firmen staatsverbürgte Kredite in Höhe von 300.200.- DM.[9]

Fußnoten

  1. KÖNIG, Walter: Flüchtlingslager Wülzburg. Ankunft und Integration der Heimatvertriebenen in Weißenburg; Weißenburg 1990, S. 134
  2. Erinnerung an Gespräche von Horst Spitschka mit seinem Vater in den 1960er Jahren
  3. Lastenausgleichsbank: Die gewerblichen Vertriebenen- und Flüchtlingsbetriebe, Erfolge und ungelöste Aufgaben der Eingliederung; Bad Godesberg 1955, S. 32
  4. Polzer Robert, Die Sudetendeutsche Wirtschaft in der Tschechoslowakei, Heft 15 der Schriftenreihe des Göttinger Arbeitskreises, S. 13
  5. Bayerische Staatszeitung vom 16.9.1960: Hessel August, Die Entwicklung Bayerns zum Industrieland als Raumproblem (ohne Seitenangabe)
  6. Lehovec Otto, Zum Strukturwandel der Bevölkerung Weißenburgs seit dem 2. Weltkrieg, Beitrag zur Stadtgeschichte in „Uuizinburc Weissenburg 867 – 1967; Weißenburg 1967, S. 146
  7. Reichling Gerhard, Die Heimatvertriebenen im Spiegel der Statistik, Berlin 1958, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Neue Folge Band /III
  8. SPITSCHKA, Dr. Horst: eigene Aufzeichnungen; er hat auch diesen Artikel im März 2012 verfasst. Fast auf die gleichen Zahlen kommt Fr. Prinz in: PRINZ, Friedrich, PSCHEIDT, Edgar: Nation und Heimat. Beiträge zur böhmischen und sudetendeutschen Geschichte; München 2003, S. 422
  9. FRANK, Rainer: Die Heimatvertriebenen im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen, Weißenburg 1991, S. 263